Donnerstag, 13. Dezember 2012

Eskimo Limon 9 von Sarah Diehl

Eine jüdische Familie, Vater, Mutter und der elfjährige Sohn ziehen von Tel Aviv in die hessische Provinz, nach Niederbrechen. Der recht unbeholfene Umgang der Dorfbewohner mit den Zuzügern und der genauso unbeholfene Umgang der Familie mit den Dorfbewohnern wird von den Kritikern als "Culture-Clash der besonderen Art" gefeiert. Die Frau, Ziggy, setzt sich dann auch intensiv und sehr theoretisch mit ihrer Situation und beiden Kulturen auseinander, Mann und Sohn bleiben jedoch Nebenfiguren. Die Beziehung innerhalb der Familie wird nicht ausgeleuchtet, auch die Beziehung Ziggys zu einem aufgeschlossenen Rentner des Dorfes bleibt innerhalb des theoretischen Diskurs und dadurch seltsam emotionslos. Nach 315 Seiten intellektuell hochgehaltener Hausfrauenlangeweile trennt sich Ziggy von ihrem Mann und ihrer neuen Heimat und geht zurück nach Israel.

Es gibt zu diesem Buch auch andere Stimmen, der Spiegel zum Beispiel ist sehr entzückt: Sarah Diehl (hat) einen entzückenden, popkulturell versierten Roman über Identitäten und Heimweh geschrieben. Weil (sie) auch eine gute Erzählerin ist, kommen in dieser Geschichte keine theoretischen Einordnungen, sondern Bienenstich und Sid Vicious vor... Denn das ist das entzückendste an diesem Roman: Diehls Faible für Populär- und Alltagskultur, das schon im Titel anklingt.

Eine Preisfrage zum Schluss: Was bedeutet Eskimo Limon?

Montag, 19. November 2012

nackt schwimmen von Carla Guelfenbein

Nackt schwammen die beiden Freundinnen Morgana und Sophie und beide rufen sich im Buch die Erinnerung daran wach. Übertragen beschreibt es auch die sehr enge, hüllenlose, fast erotische Beziehung der beiden Mädchen, beide schwimmend auch im Leben, Sophie,  die Vogelkäfige in Kunstobjekte verwandelt und Morgana, die ihr dazu die Gedichte liefert. In diese Symbiose wird Sophies Vater hineingezogen, als Vater von Sophie, als heimlicher Liebhaber von Morgana.
Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund des Militärputsches gegen Salvador Allende in Chile. Die äussere, politische Gewalt und Zerstörung vermischt sich unaufhaltsam mit den Kräften im Inneren, die das Bündnis der drei sprengen werden.
Ein poetisches, ein traurigschönes Buch, klingend übersetzt von Angelica Ammar (Die Zeit der grünen Mandeln). Allein die Überschriften dürfen nicht überlesen werden:
Engelssprung ; Du, zum Brustbein; Traurigglücklichsein; Die Unendlichkeit ist immer blau.

Donnerstag, 15. November 2012

Lola Bensky von Lily Brett

Das Buch "Einfach so" von Lily Brett habe ich geliebt. Es erzählt die Geschichte einer sehr neurotischen Frau, die in New York lebt. Sie ist die Tochter jüdischer Eltern, die den Holocaust überlebt haben und sie trägt schwer an der Last dieses Erbes. Die scharfsichtige und dabei komische Art der Protagonistin, das Leben vor diesem Hintergrund zu beobachten und zu kommentieren, macht die Besonderheit dieses Buches aus. Der neue Roman handelt nun wieder von viel Autobiographischem, Lola Bensky ist eine Reporterin aus Australien, die in London und New York Interviews mit Musikern führt und deren Leben bestimmt wird von den wiederkehrenden Themen Holocaust, Übergewicht, falsche Wimpern, falscher Mann und Mr. Someone else, richtiger Mann. Nebenbei erfährt man viele Anekdoten dieser Stars der Sixties, diese könnten allerdings auch frei erfunden sein.
Fazit: Auf jeden Fall "Einfach so" lesen, "Lola Bensky" muss man dann nicht mehr unbedingt lesen.

Herr Merse bricht auf von Karin Nohr

Wenn Psychoanalytiker Bücher schreiben, und die Psychoanalyse selbst zum Thema machen, kann das sehr spannend sein (Irvin Yalom: "Die rote Couch", "Und Nietzsche weinte"). Wenn allerdings eine Analyse in Romanform umgearbeitet wird und sehr viel mit Bildern und Symbolen gearbeitet wird, wirkt das aufgesetzt und angestrengt, wie es in dem Buch von Karin Nohr der Fall ist. Herr Merse, der von seiner Frau getrennt lebt, macht Urlaub auf Sylt im Ferienhaus seiner Schwester und verliebt sich heftigst, unreflektiert und endgültig in Frau Luner, die mit ihren Kindern am gleichen Ort Urlaub macht. Frau Luner hört ihm zu, seine Ex, seine Schwester und die Nachbarin hingegen sind alle übermächtig und bevormundend. Herr Merse erfährt in diesem Urlaub dann auch einiges über sein Leben, aber dabei verheddert er sich schliesslich so sehr, dass er keinen Ausweg mehr sieht.
Ein Buch mit Wortwitz, aber etwas mühsam zu lesen.

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Mit Haut und Haaren von Arnon Grünberg

Arnon Grünberg war auch schon mal besser. Bissiger, scharfzüngiger, provozierender. Nun schreibt er fast 700 Seiten über Beziehungen, die an der Oberfläche dümpeln. Allen voran der Protagonist, Roland Oberstein, der sich selbst als herausragenden Wissenschaftler sieht und am liebsten sich ganz der Wissenschaft widmen möchte. Ungeachtet dessen häuft er Frauenbekanntschaften an, eine Ex-Frau, eine Freundin, eine Kongressbekanntschaft, eine Affäre und eine Wettfreundin, alle diese Frauen haben auch wieder Männer, Freunde, Bekanntschaften, Affären. Doch nichts geht ans Herz, es sind teflonbeschichtete Figuren, nicht angreifbar, nicht fassbar, nicht entflammbar. "Undurchschaubar bist du, Roland Oberstein", sagt sie. "Undurchschaubar, ein kalter Fisch." Ja, und uninteressant.

Lieber lesen: Phantomschmerz, Blauer Montag, Tirza.

Mittwoch, 12. September 2012

Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky

Zunächst: Judith Schalanskys Bücher sind extrem schön illustriert. Das macht sie selbst. Bekannt geworden ist sie durch das Buch "Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde." Ein Buch, das man wahnsinnig gerne in die Hand nimmt, bestaunt und verschenkt, aber wahrscheinlich nie wirklich liest. 
Im Roman "Der Hals der Giraffe" geht es um Inge Lohmark. Sie ist eine alternde, spröde Lehrerin am Charles-Darwin-Gymnasium in einer Kleinstadt in Vorpommern. Und unter dem Licht der Evolutionstheorie schaut sie sich ihr Leben an. Es gibt vieles, von dem sie nichts hält, unter anderem von Nähe, von Verständnis, von ihrem Mann. Die Tochter ist schon lange in Kalifornien und denkt nicht an die Arterhaltung. „Das tote Ende einer Entwicklung. Aber die Strauße sahen ihre Küken ja auch nie wieder. Im Tierreich kam man sonntags nicht zum Kaffeetrinken vorbei.“
Ein Bildungsroman, trocken und komisch, ein Muss für alle Lehrerzimmer und Biologen.  

Montag, 10. September 2012

Fische füttern von Fabio Genovesi

Ein Jungenbuch. Ein Männerbuch. Es geht ums Angeln, Radfahren und das Heranwachsen in einem kleinen Dorf in der toskanischen Provinz.
In Fiorenzos Leben gab es zwei Schicksalsschläge: Der Verlust der rechten Hand beim Werfen eines selbstgebastelten Böllers und der Tod der Mutter.  Seither gibt es in seinem Leben nur noch Männer: Sein Vater, ein angefressener Radrennfahrer und Trainer, der sich nicht mehr um den einhändigen Fiorenzo kümmert. Mirko, den Fiorenzos Vater entdeckt hat und den er nun stattdessen trainiert. Fiorenzos Heavy Metal Band, echte Jungs, die auf den Durchbruch warten. Die Rentner des Dorfes. Bis Tiziana in Fiorenzos Leben auftaucht, die nach ihrem Studium voller Idealismus die Jugendinfo des Dorfes übernommen hat. Und der Reigen beginnt.
... Also auch ein Frauenbuch.

Mittwoch, 27. Juni 2012

Schossgebete von Charlotte Roche

Wer meint, man müsse das Buch vielleicht mal gelesen haben: Nein, man muss nicht!!!

Sonntag, 10. Juni 2012

Der Russe ist einer, der Birken liebt von Olga Grjasnowa

Der Roman hat alle Zutaten, um die Kritiker dazu zu bringen, die Autorin als neuen weiblichen Star am Literatenhimmel zu feiern: Migrationshintergrund der Protagonistin und ihrer Freunde, Tablettenmissbrauch, etwas Homosexualität, etwas Prostitution, etwas Kindesmisshandlung, Hoffnungslosigkeit und einen schrägen Titel.
Mascha als Aserbaidschanerin und Jüdin lebt in Deutschland zusammen mit ihrem Freund Elias. Nachdem er an einer Fussballverletzung stirbt (!?) flieht sie nach Israel, um dort als Dolmetscherin zu arbeiten, doch Elias kann sie nicht vergessen. Sie hat zwei feste Beziehungspunkte, Sami, der in Beirut geborene Araber mit Schweizer Vater, ihr Freund vor Elias, und Cem, der türkisch-deutsche Dolmetscherkollege, ansonsten wirkt Mascha bindungsunfähig, heimatlos und haltlos. Der Roman läuft an vielen Stellen ins Leere und bleibt seelenlos.

Am 28.10.liest Olga Grjasnowa in Zürich:
http://www.zuerich-liest.ch/veranstaltung/olga-grjasnowa--der-russe-ist-einer-der-birken-liebt/

Freitag, 9. März 2012

Bessere Zeiten von Susanna Alakoski

Endlich ein fesselnder Schwedenimport, der kein Krimi ist. Leena beschreibt ihre Kindheit als Tochter finnischer Einwanderer - und Alkoholiker. Die Geschichte klingt harmlos, weil sie getragen wird von Leenas unerschütterlichem Optimismus, dass alles gut werden wird. Wie eine Raupe webt sie einen Kokon  aus gutem Glauben um die Tragödie, die sich in ihrem Elternhaus abspielt. Sie fühlt sich verantwortlich für ihre Geschwister, weiss aber, dass sie vor allem sich selber retten muss. Zusammen mit ihren Freundinnen, welche alle ähnliche Schwierigkeiten mit ihren Familien haben, gleitet Leena ins Erwachsensein, wo sie endlich für sich selbst verantwortlich sein kann.

Das Buch wurde 2011 verfilmt: http://www.besserezeiten-derfilm.de/

Montag, 9. Januar 2012

Unterm Scheffel von Maarten 't Hart

Maarten 't Hart hat unbestritten sehr gute Bücher geschrieben, dieses Buch gehört nicht dazu. Ein alternder Held, der sich ein ganzes Buch lang nach einer jungen Schönheit verzehrt, welche Jeans trägt und Red Hot Chili Peppers mag; viel klassische Musik; ein paar Jogger die durchs Wäldchen laufen und schon jubelt die Literaturszene über einen neuen Don Quijote.
Von Maarten 't Hart unbedingt lesen: "Das Wüten der ganzen Welt" und "Ein Schwarm Regenbrachvögel".

Freitag, 6. Januar 2012

Ausgeliehen von Rebecca Makkai

Die Bibliothekarin Lucy Hull, die dem 10-jährigen lesehungrigen Ian normalerweise Bücher ausleiht, leiht sich kurzerhand den Jungen selbst aus. Gemeinsam reisen sie quer durch Amerika bis an die kanadische Grenze. Dieses Road-Book ist gespickt mit Literaturzitaten (die man allerdings zuordnen können muss...), es ist die Geschichte eines kleinen, seltsamen Jungens und seiner strengen Mutter, es ist eine leise Geschichte über das Thema Homosexualität in Amerika, es ist die Reise Lucys, der Tochter russischer Immigranten, durch Amerika zurück in ihre eigene Geschichte und es ist sehr, sehr witzig geschrieben.

Mittwoch, 4. Januar 2012

Der weisse Tiger von Aravind Adiga

Sehr viel gelesen in letzter Zeit aber darüber wenig berichtet...
"Der weisse Tiger" ist "Shantaram" light: Es geht um den -in Indien sehr unwahrscheinlichen- Aufstieg eines Dieners zum Unternehmer, dabei wird schonungslos und komisch über die indische Realität berichtet, über Korruption, Familienzusammenhalt, das Herrenverhalten, das Kastenwesen, die Armut. Das Buch ist in Briefform geschrieben. Sieben Briefe in sieben Nächte, geschrieben an den chinesischen Ministerpräsidenten, der angekündigt hatte, "die Wahrheit über Bangalore" erfahren zu wollen und "den Wunsch geäussert [hatte], indische Unternehmer zu treffen und ihre Erfolgsgeschichten in ihren eigenen Worten zu hören." Und so erfährt der Leser in diesen Briefen diese Version des Aufstiegs und den Preis, den Ashok Sharma (der weisse Tiger) dafür bezahlen musste. Lesenswert.